In Bolivien wird – typisch Lateinamerika – gerne ausgiebig getanzt. Neuankömmlingen in Bolivien bleibt da nichts erspart, selbst wenn man (wie ich) darauf beharrt, vom Herrgott keine Tanzschuhe in die Wiege gelegt bekommen zu haben. Doch alles Jammern hilft nichts: innerhalb weniger Wochen bekommt man die wichtigsten Tänze des Landes eingeimpft. Belustigt und stolz zugleich beäugen die Bolivianer dann schließlich, wie sich der Gringuito in den landestypischen Tänzen zu bewähren versucht… Heute gibt es Lektion 1 für alle Wahlbolivianer: die Morenada.

Die Morenada darf auf keinem Umzug fehlen – und solche gibt es nicht nur im Karneval: die landesweite Einschreibung der Erstsemester in den Universitäten ist dafür ebenso geeignet, wie das Patronatsfest einer Stadtteilheiligen. Vielleicht erstaunt es daher umso mehr, dass man trotz ihrer zentralen Rolle in der Tanzkultur Boliviens kaum etwas über die wahren Ursprünge der Morenada weiß.

Fest steht, dass in der Morenada Schwarze und Kreolen (span.: morenos) thematisiert werden – unklar ist jedoch, in welchem Sinn. Es gibt folgende Ansichten:

  1. Die Morenada bezieht sich auf den Mohren der Heiligen Drei Könige. Das erklärt, warum die Morenada eng mit dem Karneval verbunden war (und ist).
  2. Die Morenada ist ein Spott auf die schwarzen, afrikanischen Sklaven, die während der Kolonialzeit gegenüber den ausgebeuteten Indios Privilegien besaßen – sich zumindest aber nicht mit den Indios solidarisierten.
  3. Die Morenada ist ein Lob auf den Widerstand der schwarzen Sklaven gegen die weiße Besatzungsmacht. Hierzu wird insbesondere die Legende vom Caporal angeführt (dazu unten mehr).

Ähnlich unterschiedliche Ansichten gibt es zur Herkunft:

  1. Es ist nahezu auszuschließen, dass der Tanz von Negersklaven aus Afrika mit nach Bolivien gebracht wurde. Dennoch wird diese Position v.a. im bolivianischen Volksmund häufig vertreten.
  2. Der Tanz kann für das 17. Jahrhundert in der Region des Titicaca-Sees nachgewisen werden und die dortigen Orte reklamieren für sich, die Geburtsstätte der Morenada zu sein. Tatsächlich findet sich hier eine lange Tradition in der Herstellung von Kostümen.
  3. Der Legende vom Caporal zufolge kommt die Morenada aus den Yungas, wo die Anden ins Tiefland abfallen. Hier soll früher mit Hilfe der schwarzen Sklaven Wein produziert worden sein. Das aber lässt sich (zumindest für die Yungas) nicht nachweisen.
  4. Eine vierte Version sieht die Entstehung der Morenada in den Bergbaustädten Oruro und Potosi, wo schwarze Sklaven wegen ihrer kräftigeren Körper nicht in den engen Minen eingesetzt wurden, sondern nur  in den Prägewerkstätten (z.B. der Casa de la Moneda in Potosi). Wegen dieses „Privilegs“ wurden sie von den Indios in der Morenada verspottet.

Vielleicht darf man den Zugang zur Morenada daher bei allen Unklarheiten nicht in ihrer Geschichte suchen, sondern in ihrer gegenwärtigen folkloristischen Bedeutung:

Die Legende vom Caporal spielt auf einem Weingut in den Yungas. Die schwarzen Sklaven, die hier eingesetzt werden (weil sie zu groß für die engen Minenschächte waren und die Höhenluft nicht vertrugen), planen einen Aufstand gegen den Caporal. Zu  diesem Zweck wird dieser von einer schönen Morena abgelenkt und mit dem Wein betrunken gemacht. Derart seines Verstandes beraubt, wird der Caporal schließlich gezwungen, selbst die Trauben zu stampfen.

Tatsächlich handeln viele gesungene Morenadas vom Aufstand der Sklaven gegen den Caporal und der Tanz wird zunehmend in dieser Bedeutung interpretiert:

  • Das gleichförmige Fortschreiten der Tänzer repräsentiert die Sklaven auf ihrem langen und anstrengenden Fußmarsch von den Häfen der Ostküste (an denen sie aus Afrika ankamen) zu den Anden.
  • Die Ratsche repräsentiert das Kettenrasseln ihrer Fußfesseln auf diesem Weg.
  • Die fülligen Kostüme repräsentieren die Körpergröße der Schwarzen gegenüber den kleinwüchsigen Indios.
  • Die aufwändigen Verzierungen der Kostüme repräsentieren den hohen Sklavenpreis für afrikanische Sklaven (im Gegensatz zu den „billigen“, einheimischen Sklaven) – oder aber den Reichtum der Sklavenhalter.
  • Angeführt wird der Tanz vom „Rey Moreno“ (dem schwarzen König), was einerseits als Hinweis auf die andine Kosmologie interpretiert werden kann, andererseits historisch, als afrikanischen (insb. äthiopischen) König, der aus der Sklaverei befreit wird und seine Würde widererlangt. Schließlich wird hieran die Verknüpfung zwischen Morenada und dem Mohren der Heiligen Drei Könige hergestellt.

Sicherlich lassen sich noch weit mehr Bedeutungen ausmachen. Und man wird sich streiten können, ob man alle diese Bedeutungen wirklich an der Geschichte festmachen kann. Dann kann man kritisch anmerken, dass die Morenada überall auch ein wenig anders getanzt wird und es „die Morenada schlechthin“ garnicht gibt.

Aber man muss festhalten, dass dieser Tanz eine wichtige Funktion für die bolivianische Kultur hat: er festigt das nationale Selbstverständnis als ein Volk, das sich von seinen Besatzern selbstbewusst emanzipiert hat. Dass man als Ausländer dabei sogar zum Mittanzen aufgefordert wird, spricht Bände. Die Lektion 1 für alle Wahlbolivianer lautet daher: die Morenada!