Vor einer Woche fand in Bolivien das Referendum zur Verfassung statt und ging wie erwartet mit einer breiten Mehrheit aus: Bolivien bekommt eine neue Verfassung! Wir möchten deshalb hier einige Einschätzungen vorstellen, die in der deutschsprachigen Presse vertreten worden sind.

Die vormals Unterdrückten sind die neuen Unterdrücker
Das Argument lautet: Früher wurden die Indios von den Weißen unterdrückt. Anstatt Gleichheit zu schaffen, dreht die neue Verfassung die Verhältnisse einfach um: Nun werden die Weißen von den Indios unterdrückt. So schreibt etwa DIE ZEIT direkt nach dem Wahltag:

Die Versöhnung zweier Weltanschauungen – die westliche auf der einen, die indigene auf der anderen Seite – steht weiterhin aus. Lediglich ein Rollenwechsel fand durch das Referendum statt: Die Unterdrückten rebellieren, ergreifen die Macht und rächen sich an den alten Herrschern.

Das gleiche Argument findet sich im Tagesspiegel wider:

Die Kritiker bemängeln – neben vielem anderem –, die neue Verfassung verfehle das Ziel, das Land, die Indios und die Restbevölkerung zu einen. Es kehre die Diskriminierung lediglich um. Die bisher Unterdrückten begehrten auf, ergriffen die Macht und rächten sich an den alten Herrschern.

Die schweizer Weltwoche spitzt das Argument sogar noch zu:

Auf Deutschland übertragen müsste die Schlagzeile etwa so lauten: „Nach Jahrhunderten der Unterdrückung durch fremdrassige Immigranten werden die Rechte der germanischen Bevölkerungsmehrheit aufgewertet“. In der realen Aktualität lauten die Schlagzeilen so: „In Bolivien schlägt die Stunde der Ureinwohner“ (Tages-Anzeiger), „Mehr Rechte für Boliviens Urvölker“ (Basler Zeitung), „Das Ende des Kolonialstaates“ (20 Minuten), „Das koloniale Erbe abschütteln“ (Zürichsee-Zeitung), „Grosser Sprung für Bolivien“ (NZZ) oder „Die Indios schlagen zurück“ (St. Galler Tagblatt, unsere Lieblingslektüre).

Dabei, so wird in dem Artikel angemerkt, ist alleine schon die Unterscheidung zwischen Indios und Weißen fraglich:

Dass mit Morales erstmals ein vermeintlicher „Indio“ – in Wirklichkeit ist der Gewerkschafter, der keine einzige der 36 Indianer-Sprachen Boliviens beherrscht, ein klassischer Mestize – auf dem Präsidententhron Boliviens sitzt, ist schlicht Unsinn.

Vor diesem Hintergrund wirkt der folgende Vergleich in der Süddeutschen Zeitung vollkommen verfehlt (danke Tobi, für den Hinweis!):

Damit soll die koloniale und neoliberale Vergangenheit enden. Auch die bolivianische Art der Apartheid soll es nicht mehr geben und Evo Morales so zum südamerikanischen Nelson Mandela werden. Doch in Bolivien werden die für Lateinamerika so typischen Grabenkämpfe weitergehen.

Aber genau das ist die Weise, in der sich Evo Morales selbst in den Medien stilisiert – und spricht vielleicht Bände darüber, wie sehr die Verfassung Bolivien eint oder erst polarisiert.

Morales wird die neue Verfassung für seine Macht missbrauchen
Das Argument lautet: Evo Morales hat erreicht, woran sein politischer Freund Hugo Chavez bislang gescheitert ist: eine Verfassung zu installieren, die ihren Missbrauch begünstigt. Schon vor dem Ausgang des Referendums schreibt Benjamin Kiersch in der taz:

Laut dem bolivianischen Verfassungsrechtler José Antonio Rivera dürfte es für die MAS relativ leicht sein, die Verfassung zu ändern, sofern sie wie erwartet morgen in Kraft tritt. Der Kongress kann Verfassungsänderungen mit einer Zweidrittelmehrheit aller anwesenden Mitglieder beschließen, sofern mindestens die Hälfte aller Abgeordneten anwesend ist. Damit könnte die MAS in Abwesenheit der Opposition Verfassungsänderungen beschließen. Zu verhindern, dass oppositionelle Abgeordnete zur Abstimmung erscheinen, reicht es, einen Ring von MAS-Anhängern um das Kongressgebäude zu postieren – das hat die Partei in den vergangenen Jahren bereits eindrucksvoll demonstriert.

Mit den ersten Änderungen der Verfassung dürften dann die Zugeständnisse an die Opposition rückgängig gemacht werden, insbesondere die Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Legislaturperioden. So schreibt Die Presse:

Der erste Verfassungsentwurf sah gar die unbegrenzte Wiederwahl vor, davon musste Morales abgehen, damit die Opposition das Referendum guthieß. Aber das kann er in den kommenden Jahren noch ändern. Rat dafür spendet sicher Morales‘ großer Förderer aus Caracas. Am 15.Februar will sich Venezuelas Präsident Hugo Chávez seine unbegrenzte Wiederwahl an den Wahlurnen genehmigen lassen.

Die Gefahr des Machtmissbrauchs durch Evo Morales schwebt also in der Luft, ist bislang aber ungreifbar.

Die nächste Präsidentschaftswahl ist Prüfstein der Verfassung
Nicht nur, dass sich bei der Präsidentschaftswahl im Winter 2009 entscheidet, ob Evo Morales weiterhin Präsident des Landes bleibt – die Alternative zu ihm könnte die Verfassung selbst betreffen. So gilt Carlos Mesa, der die neue Verfassung rechtlich vorbereitet hat, als schärfster Gegner der neuen Verfassung. Gleichzeitig gilt er aber auch als nächster Präsidentschaftskandidat. In der taz heißt es:

Mesa wird als möglicher Oppositionskandidat bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gehandelt und hat sein Nein zum neuen Verfassungsentwurf angekündigt. Der Entwurf „ist nicht das Produkt eines transparenten und demokratischen Prozesses,“ sagt Mesa und spielt damit auf die Tatsache an, dass die Verfassungsgebende Versammlung zeitweise hinter verschlossenen Türen tagte und zudem kein Paragraf mit der vereinbarten Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen wurde.

Nach dem Referendum hielt Mesa die Bevölkerung (lt. einer spanischen Meldung) jedoch dazu an, die neue Verfassung zu akzeptieren, da sie ja tatsächlich vom Volk mehrheitlich beschlossen worden ist. Ohnehin obliege es vor allem der nächsten Regierung, die Verfassung praktisch umzusetzen. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommen übrigens auch die EU-Beobachter des Referendums in ihrem Bericht:

Den Problemen des Verfassungsgebungsprozesses zum Trotz sei die Volksabstimmung glaubhaft abgelaufen. Der konfliktreiche Verhandlungsprozess im Vorfeld habe jedoch die sozialen und politischen Spannungen im Land eher verstärkt und mache es notwendig, den Dialog zwischen den unterschiedlichen Gruppen zu verstärken.

Die größten Herausforderungen an die bolivianische Politik stehen also noch an und müssen v.a. von der nächsten Regierung gelöst werden. Insofern darf man in die neue Verfassung vielleicht noch nicht zu viele Hoffnungen legen: sie hat zwar eine Grundlage für eine neue Politik geschaffen, muss sich aber in ihrer konkreten tagespolitischen Ausgestaltung erst noch bewähren. Und da würden Carlos Mesa und Evo Morales sicherlich einen Unterschied machen…

Soweit unser Blick in die Presse. Meinungen und Einschätzungen hierzu dürfen gerne als Kommentar zu diesem Beitrag hinterlassen werden…