Plan und Wirklichkeit
Als ich 2006 das Projekt in Bolivien besuchte, hatte ich das Vergnügen, mich intensiv mit dem Subalcalde (entspricht in etwa dem Bürgermeister) von Tilata über die Entwicklungschancen des Ortes austauschen zu dürfen. Der Subalcalde war ein etwas älterer, charmanter Herr, der damals frisch ins Amt gekommen war, um seinen korrupten Vorgänger zu ersetzen. Den Mangel an politischer Erfahrung sollte ein junger Akademiker ausgleichen, der ihm als Assistent zur Seite gestellt worden war. Leider war die Gemeindekasse aber absolut leer (vermutlich sogar mehr als das) und die staatlichen Stellen wollten keine zusätzliche Unterstützung geben. Da der Subalcalde aber neben viel Idealismus auch einen außerordentlichen Ehrgeiz mitbrachte und nicht im geringsten vorhatte, seine Zeit in dem kleinen Ort abzusitzen, musste er kreativ sein: Als einzig machbare Politik schien ihm, die Aktivitäten der Unternehmen und sozialen Einrichtungen in Tilata aktiv zu koordinieren. Und da stand SARIRY ganz oben auf seiner Liste.
Bei diesem Gespräch habe ich einen Straßenplan von Tilata ergattert: Man entschuldige bitte die schlechte Qualität der Karte – ich musste eine Fotokopie abfotografieren und das Ganze nachträglich mit einem Grafikprogramm überarbeiten. In Deutschland angekommen hab ich mir dann noch bei Google Maps ein Satellitenfoto besorgt (und auch etwas nachbearbeitet). Ich glaube man sieht daran nun ganz schön die Diskrepanz zwischen Plan und Wirklichkeit:
Das Problem der Siedungsdichte
Was sofort auffällt, sind die riesigen Baulücken. Ein Großteil der Grundstücke ist noch unbebaut. Und während einige Parzellen ihre Grenze zumindest durch eine provisorische Mauer andeuten (hinter der sich oft nichts verbirgt), ist der weitaus größere Flächenanteil des Ortes ohne jegliche Markierung. Zudem sind die Straßen in Tilata nicht asphaltiert und unterscheiden sich so nicht wahrnehmbar von den Baulücken. Vor Ort kann man die Struktur im Stadtplan also nicht nachvollziehen.
Dabei hatte sich der Plan so einiges vorgenommen: Man sieht deutlich, dass der Ort von kleinen Zentren durchzogen sein sollte, in denen die Nachbarschaft zusammenfindet. Diese Zentren wären städtebauliche Orientierungspunkte für das Gemeinwesen geworden: Parks, Sportplätze, kleine Treffpunkte. In der Praxis gibt es allerdings überhaupt kein Zentrum.
Das hat schwere Konsequenzen auf das Sozialgefüge von Tilata. Der Ort leidet darunter, dass es kein Zentrum gibt: der nächste Marktplatz, an dem sich Angebot und Nachfrage treffen können liegt weit entfernt. Und oft erstreckt sich die Reichweite der sozialen Kontakte nur über ein paar Straßen – und umfasst damit nur einige wenige Menschen. Angebote wie Sariry werden daher als sozialer Treffpunkt gerne angenommen und haben eine wichtige Funktion in der Ortschaft.
Die geringe Bevölkerungsdichte birgt aber ein weiteres Problem: die Entwicklung der Infrastruktur kostet viel und erreicht dabei nur wenige Menschen. Die Gemeinde hat einfach nicht genügend Geld, um kilometerlange Wasser- / Abwasserrohre, Straßennetze, etc. zu legen, wenn am Ende nur ein Dutzend Haushalte tatsächlich davon profitieren (das selbe Argument gilt für Schulen, Krankenhäuser, etc.). Die Kosten der Infrastrukturerrichtung sind bei der geringen Siedlungsdichte einfach zu hoch.
Das Problem der Innenraumentwicklung
Das Satellitenfoto täuscht sogar, denn tatsächlich sind viele der Häuser vor Ort unbewohnt:
Irgendwann haben Leute das Grundstück gekauft, um dort ihr neues Leben anzufangen. Schnell mussten sie jedoch feststellen, dass in Tilata schlechte Lebensbedingungen vorherrschen und es kaum Aussicht auf eine schnelle Besserung gibt: keine Grundversorgung, wenig Arbeit, etc.. Deshalb haben sie, als sie im Zentrum bessere Arbeit gefunden haben, einfach ihr Haus zurückgelassen. Dort steht es nun – oft völlig verwahrlost, und teilweise sogar in sich eingefallen.
Die Grundstücke in Tilata haben ihre Eigentümer alle bereits gefunden. Diese interessieren sich aber nicht mehr für den Ort und blockieren damit (ohne Mutwilligkeit), dass der Ort zusammenwachsen kann. Ein Teufelskreis ist in Kraft gesetzt: Solange der Ort so zersiedelt ist, bleibt die Infrastruktur von Tilata aus Kostengründen unterentwickelt. Solange es aber keine Infrastruktur gibt, besteht für die Eigentümer der Grundstücke kein Anreiz, die Baulücken zu schließen und nach Tilata zurückzukehren. Vor diesem Hintergrund wird vielleicht erst verständlich, warum wir so stolz darauf sind, dass nach langen Verhandlungen ein Wasseranschluss als Prototyp ins Projekt gelegt wurde. Es geht eben auch darum, mit einer Vorausleistung die Abwärtsspirale zu durchbrechen.
Das Problem der Fluktuation
Ein letztes Problem (zumindest für diese Darstellung) muss Tilata bewältigen: Nach wie vor kommen neue Menschen von außerhalb der Stadt an. Für sie ist Tilata bereits eine Verbesserung ihrer Lebensbedingung – das heißt aber nicht, dass sie vorhaben, hier dauerhaft zu bleiben. Sobald das Zentrum von La Paz mit besserer Arbeit lockt, werden viele von ihnen weiter in Richtung Stadtmitte ziehen. So ist es in Tilata ein ständiges Kommen und Gehen – ein gesundes Gemeinwesens kann sich in Tilata aber kaum ausbilden.
Mit jeder neuen Person, die kommt, ist die Chance verbunden, dass der Ort ein wenig zusammenwächst – und mit jeder Person, die wieder geht, ist die Gefahr angezeigt, dass der Ort immer weiter verwahrlost und zu einer Wartehalle auf bessere Zeiten verkommt. Es gilt also, die Bevölkerungsfluktuation in Tilata deutlich zu verringern (zum Beispiel: die Push-Faktoren des Standorts ausmerzen und die Pull-Faktoren entwickeln).
Die Rolle von Sariry
Es ist illusorisch, dass Sariry diese Situation grundlegend ändern kann (etwa durch Straßen- oder Kanalbau). Und doch hat Sariry eine wichtige Funktion in der kommunalen Entwicklung:
Wenn den Menschen mit Sariry handfeste Perspektiven geboten werden, bleiben sie vielleicht ein wenig länger in Tilata. Vielleicht trägt sie die Hoffnung, dass der Ort eine Zukunft hat – und vielleicht kann man dieser Hoffnung eine Berechtigung geben, wenn man deutliche Signale setzt. Der Wasseranschluss im Projekt macht Mut. Die Erwachsenenbildung im Projekt gibt Perspektiven. Kontakte werden geknüpft – der Ort wächst zu einer Gemeinschaft zusammen. Die Menschen bleiben und Tilata gewinnt an Profil. Das ist sicher noch nicht genug, um sich darauf ausruhen zu können, aber eine wesentliche Bedingung dafür, dass es mit der kommunalen Entwicklung überhaupt weiter gehen kann.
Ich hatte in der Einleitung ja bereits erwähnt, dass der Subalcalde bei unserem Gespräch einen beeindruckenden Idealismus zeigte – vielleicht, weil er erst jung im Amt war: er musste seinen korrupten Vorgänger ersetzen. Gerade weil er aber über die alltägliche Korruption in einem armen Land wie Bolivien wusste, hatte er kaum noch Vertrauen in die Kommunalverwaltung. Sein eigener Handlunsspielraum war auf die Amtszeit beschränkt, sein Budget war mehr als knapp – und er hatte auch keine Hoffnung, dass sein Nachfolger die eigenen Projekte gewissenhaft fortführen würde. Für ihn kam das einer politischen Ohnmacht gleich.
Die einzig Perspektive, die er daher für Tilata sah, lag in ausländischen Hilfsorganisationen: erstens, weil Dollar mehr bewegen als Bolivianos, zweitens aber wegen des dauerhaften, stabilen und gewissenhaften Engagements. Seine konkreten Hoffnungen, die er mir gegenüber äußerte (insbesondere zur Höhe zukünftiger Investitionen) waren vollkommen übertrieben – aber die Grundidee blieb mir in guter Erinnerung: in einem politisch instabilen Land mit hoher Korruption kann man von staatlichen Stellen nur kurzfristige Unterstützung erwarten – das langfristige Engagement muss dagegen von unabhängigen Organisationen wie Sariry kommen.
Ein Ort, in dem es kaum sozialen Zusammenhalt gibt, weil fortwährend Menschen zu- und fortziehen, – ein Ort, in dem es kein Zentrum und keine Peripherie, keine Vergangenheit und (fast) keine Zukunft gibt, – ein Ort wie Tilata braucht die dauerhafte Unterstützung von einem Projekt wie Sariry.
1 comments on “Plan und Wirklichkeit”
Endlich mal ein Kommentar, aus dem hervorgeht, welchen Stellenwert Sariry für den gesamten Ort hat. Ich finde es total wichtig, ein Hoffnungszeichen zu setzen. Damit wurschteln wir nicht so vor uns hin – völlig abgeschnitten vom Rest des Ortes, sondern das Projekt hat Bezug und Beziehungen. Bei uns ist ja grade „Vernetzung“ ein wichtiges Stichwort – dort wird es wohl praktiziert. Da können wir ja auch lernen, wie man das macht.