Ich habe in der Bibliothek ein interessantes Buch gefunden, aus dem ich heute einen Argumentationsstrang vorstellen möchte. Es geht um die Frage, wie das Christentum bei den Aymara- und Quechua-Indianern in den Anden gelebt wird – und inwiefern man am Ende davon sprechen kann, dass das Christentum in den Anden das gleiche Christentum bzw. ein anderes Christentum wie in Europa ist. Zu diesem Zweck werden die christlichen Gebete der Aymara und Quachua analysiert und mit den europäischen Gebeten verglichen: welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede gibt es?

Wenn man von Gebeten spricht, dann muss man natürlich als erstes feststellen, dass man seinen Glauben nur dann in Gebeten äußern kann, wenn man in der eigenen Sprache dafür auch die passenden Begriffe hat (das ist eigentlich ziemlich trivial):

So reich die Quechua- und Aymara-Sprachen sind, um unzählige feinste Varianten sozialer Beziehungen und emotionaler Tönungen auszudrücken, so arm sind sie an abstrakten Begriffen. Ihnen fehlen solche Begriffe wie Zahl, Menge, Form, Farbe, Richtung, Klasse, Art, Beschaffenheit; auch Kollektiva wie Rudel, Schwarm, Herde, Steinhalde usw. gibt es nicht. Moralische Abstrakta (Sünde, Schulde, Gnade, Dankbarkeit, Sühne, Erlösung usw.) und Abstrakta aus dem politischen Raum (Regierung, Macht usw.) fehlen ebenfalls. Für das Wort Gnade gibt es, wie bereits erwähnt, nicht nur kein Wort, es gibt auch keine Denkkategorien, um diese Unsäglichkeit nicht-reziproker Beziehung zu verstehen. Es ist nicht „Ignoranz“, welches dem Quachua- oder Aymara-Indianer das Vaterunser verstellt – es ist die bis in die sozialen Kategorien hinein verankerte konzeptionelle und linguistische Unverstehbarkeit. (Rösing 2001, 73).

Vor allem der letzte Satz ist entscheidend: es ist kein böser Wille, dass die christlichen Gebete in der Aymara-Übersetzung verfremdet sind, sondern einfach die Tatsache, dass es im Aymara nicht alle Begriffe gibt, die zur Übersetzung benötigt werden. Wenn man die christlichen Gebete also übersetzt, so bekommt man am Ende einen Lückentext, bei dem all die Begriffe fehlen, die nicht übersetzt werden können.

Als Lückentext kann man ein Gebet freilich nicht stehen lassen – die Lücken müssen irgendwie aufgefüllt werden. Und welche anderen Begriffe kann man dafür schon hernehmen, als die, die im Aymara bereits vorhanden und am plausibelsten sind. So tauchen in den christlichen Gebeten plötzlich die Symbole der andinen Konsmologie auf:

Das heilige Kreuz, der Vater, der Sohn, der Heilige Geist, die Gottheit des heiligen Berges Esqani, der göttliche Esqani, die Berggottheiten Kallinsani, Phinata, Thoqonta, Chilliqa sowie die von Gottheiten bewohnten Quellen, die auch Prinzessinnen genannt werden, der Heilige Vogel Kondor, die Jungfrau Erde, die Jungfrau Prinzessin, sie alle sind […] friedlich vereint (Rösing 2001, 77).

Man kann sich daher gut vorstellen, dass die christlichen Gebete ins Aymara nicht einfach 1 zu 1 übersetzt werden können – sondern dass sie bei der Übersetzung ihre eigentliche Bedeutung ändern. Eines der zahlreichen Beispiele ist das Vaterunser:

Nest aus Silber, Nest aus Gold,
Kondor Mamani,
Reichtum, Wohlstand, Fülle…
Vater unser, vom Himmel her,
dein Reich komme zu uns,
dein Wille geschehe,
geheiligt werde dein Name,
so wie im Himmel,
nunmehr Mutter Erde,
Jungfrau Maria,
den Söhnen des Syndikats bereite ich das,
heilige Erde,
Reichtum, Wohlstand,
Inhaber des Reichtums der Dunkel-Welt,
Kondor Mamani,
mallku Esqani,
Mutter Erde, heilige Erde
(Rösing 2001, 79f.)

Wenn wir die Gebete zurückübersetzen, um die Bedeutungsänderung festzustellen, so müssen wir bedenken, dass auch wir dabei den Sinn verändern – auch wir können mit unseren Begriffen nicht ins Detail verstehen, was dieses Gebet im Original bedeutet. Man wird aber einsehen, dass der christliche Glaube in den Anden etwas anderes als in Europa ist.

Vor diesem Hintergrund darf man einer andinen Version des Christentums sicherlich nicht mit Schuldzuweisungen begegnen: es handelt sich ja nicht um eine mutwillige „Abweichung“ von der normalen christlichen Kirche, sondern ist die Folge eines Christentums, das sich zunehmend fremden Kulturen und Lebenswirklichkeiten öffnet und seinen Eurozentrismus abschüttelt.

Rösing, Ina (2001): Die „heidnischen“ Katholiken und das Vaterunser im Rückwärtsgang. Zum Verhältnis von Christentum und Andenreligion; Heidelber: Winter.